M 8 Das Wunder der Brotvermehrung

Perspektive von Franz Seghers, Marburg, Deutschland

Arbeitsaufgaben

  1. Was ist für den Autor das eigentliche Wunder in der Erzählung?
  2. Welche Rolle spielt im Text die Sorge für die Menschen?
  3. Wie wichtig ist der Aspekt des Teilens?

Arbeitsmaterial

Weltkarte, Deutschland im Zentrum
wold map generator, Marburg im Zentrum

Schau hin: Gebt ihr ihnen zu essen 

Das Wunder der Brotvermehrung ist keine magische Brotvermehrung, sondern eine subversive Praxis. Sie kritisiert die politisch Mächtigen: Sie sind „Hirten, die sich selber weiden“ (Ez34,2), während das Volk hungert. Das Wunder der Brotvermehrung lehrt zu sehen: Schau hin! Die Wundergeschichte erzählt vom Wunder, das sich ereignet, wenn Ökonomie endlich ihrer Aufgabe gerecht wird, nicht vermeintliche Knappheiten zu erzeugen, sondern tatsächlichen Mangel zu beseitigen. Die Bibel kennt verschiedene Bilder für Gott: Er ist König, Hirte, Richter.

Das Wunder der Brotvermehrung erzählt von Gott wie von einem Ökonomen. Er sorgt für das, was die Menschen zum Leben brauchen. Er hat den Menschen eine Schöpfung übergeben, die voll von Gütern ist. Der Gott der Bibel handelt als Ökonom anders als es die Ökonomen der Kapitalerwerbsökonomien es tun. Vom Gott der Bibel kann immer nur materialistisch gesprochen werden, denn es ist ein Gott, der für das sorgt, was Menschen zum Leben brauchen. Diese Rede von Gott, dem Ökonomen, klärt, welche Ökonomie dem Menschen nutzt und welche ihm schadet. 

Eine Lektion der Tora für die Jünger:innen

Jesus lehrte Jesus sie. (Mk 6, 34) Er hatte erkannt, wonach die Menschen hungern: Nach Brot und Gerechtigkeit. Jesu Tora-Lehre bestand offensichtlich darin, das Hungerproblem so anzugehen, dass es nach der Schilderung gelöst wurde „Alle aßen und wurden satt“ (Mk 6,42). Jesu Jünger:innen lernen die Weisungen der Tora auf das Hungerproblem zu beziehen. Jesus, der Tora-Lehrer kehrt die Blickrichtung um und fragt die Menschen. Sie sehen: „Wir haben nur fünf Brote …“(Mk 6, 38). Das Wunder beginnt nicht da, wo alle sind und noch übrigbleibt (Mk 6,44), sondern wenn die Jünger:innen, „sich in Dienstnehmen lassen, durch ihren Tora-Gehorsam“. 

Die Hungernden, die nach der Ermordung des Täufers Johannes orientierungslos umherirren, finden durch die Auslegung der Tora zur Solidarität. Es genügt nicht, Brot zu verteilen; man muss nach den Ursachen der Not fragen. Die Brotvermehrung ist eine subversive Praxis. Sie resultiert aus der Wahrnehmung und Analyse der erbärmlichen Lage, in der sich Hungernde befinden, und begründet eine Ethik der Solidarität.(…) 

Gottes GerechFgkeit muss Rechtsgestalt annehmen, damit die Armen zu ihrem Recht auf ein Leben in Gerechtigkeit und Würde kommen können. So gibt es in den Gesetzbüchern der Tora zahlreiche Institutionen der Gerechtigkeit: Sozialhilfe (Dtn 14, 28ff.), Schuldenerlass (Dtn 15), Bodenreform (Lev 25). 

Aus jahrtausendelanger Erfahrung weiß die Bibel, dass der Markt von sich aus nicht für soziale Gerechtigkeit oder die Bewahrung der Schöpfung sorgt. Das Narrativ des Teilens wäre indes verkürzt, wenn es nur zu einem Teilen anhalten würde, wie es die Tafeln oder Suppenküchen praktizieren. Sie lösen nicht das Hungerproblem, sie stillen allenfalls den akuten Hunger. Das machte der brasilianische Bischof Hélder Pessoa Câmara deutlich, als er sagte: „Wenn ich einem Hungernden Brot gebe, nennt man mich einen Heiligen; aber wenn ich frage, warum der Hungernde kein Brot hat, nennen sie mich einen Kommunisten.“ 

Franz Seghers, Marburg, em. Professor für Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Marburg 
Der Text ist ein Auszug aus: CuS. Christin und Sozialistin, Christ und Sozialist, Jahresausgabe 2021, Ingolstadt

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